Russland 2010/11 – Teil 2

Anke Nies

anke-russland4Wärme schlägt mir ins Gesicht, als ich in Frankfurt, mit viel zu vielen Taschen und vor allem mit gemischten Gefühlen, aus dem Flugzeug steige.

Ein aufregendes Jahr liegt hinter mir, ein Jahr voller Erfahrungen, Bildern und Erlebnisse.

Auch jetzt, obwohl ich nun seit mehr als einem Monat wieder in Deutschland bin, mich auch schon mehr oder weniger eingelebt habe, kann ich es manchmal noch gar nicht fassen, dass das ganze Abenteuer Russland vorbei sein soll. Viel zu schön war die Zeit mit meiner Gastfamilie und Freunden in Wolgograd.

Die 2. Hälfte meines Auslandsjahres verging besonders schnell. Wir hatten viele Camps in ganz unterschiedlichen Städten, wie z.B. in Moskau, Velikij Novgorod, St. Petersburg, Astrachan, Achtubinsk und Krasnodar, auf die man sich schon Wochen vorher riesig freute und die meistens zu den Top-Themen unter den Austauschschülern gehörten. Für mich bedeuteten die AFS Camps jeweils „days of happiness“. Nicht dass ich sonst unglücklich gewesen wäre, aber auf den Camps kam immer noch ein richtiger Glücksschub hinzu.

Das Tolle an den Lagern ist, dass man dabei andere Austauschschüler sowie russische Jugendliche trifft, mit denen man Erfahrungen austauschen und nicht zuletzt Freundschaften knüpfen kann. Außerdem kann man durch das multikulturelle Programm vieles über andere Länder und deren Sitten und Bräuchen erfahren. So lernten wir in Azov tanzen, die Jungs waren bei 8 Grad Außentemperatur im Fluss baden und verschiedene Gruppen aus Azov haben uns ihre traditionellen Kostüme, Tänze   , Gesänge und Schwertkämpfe gezeigt.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie wir Austauschschüler auf dem ersten Camp anfangs alle in einer Ecke standen und nicht so recht wussten, ob wir uns nun mit den russischen Jugendlichen, die uns alle musterten, ein Gespräch anfangen oder eher warten sollten, bis sie uns ansprachen. Ich denke umgekehrt war es nicht anders, wir waren einfach alle ein klein bisschen schüchtern und wussten nicht so recht, in welcher Sprache und über was wir uns unterhalten sollten. Aber mit der Zeit tauten wir auf, gingen auf einander zu, sprachen miteinander, freundeten uns an und wollten uns am Ende auf keinen Fall wieder trennen. Wir versprachen uns, auf Facebook Kontakt zu halten und uns auf dem Wintercamp wiederzusehen.

anke-russland5Auf dem Wintercamp in Moskau dann war die Stimmung von Anfang an gleich anders, kein Hauch von Schüchternheit. Im Gegenteil erinnere ich mich gerne daran, wie ich und eine russische Freundin aus Azov spontan aufeinander zugerannt sind, als wir uns sahen, egal was die Umstehenden in dem Moment gedacht haben mochten.

Die russischen AFS-Volunteers, die meisten sind Lehrer, sind wirklich super engagiert und für jeden Spaß zu haben, sodass einem auch bei einer über 20-stündigen Zugfahrt nicht so schnell langweilig wird. So bauten wir uns einmal auf einer Zugfahrt mitten im Zugabteil ein Haus aus Bettlaken und Decken. Das rief zwar bei dem Schaffner Kopfschütteln und Unverständnis hervor, aber es war zugegebenermaßen echt lustig zu sehen, wie die Leute darauf reagierten 🙂

Ein ganz besonderes Camp für mich war unser so genanntes „End of Stay“, dass für uns in Archipo-Osipovka, einer kleinen Stadt am Schwarzen Meer stattfand. Besonders war es, weil es unser letztes Camp war, das letzte, in dem wir unsere russischen Freunde und vor allem die ganzen Volunteers, die uns über das Jahr hin betreut haben, noch einmal sahen. Irgendwie war es schon traurig zu wissen, dass wir nach dem Camp heimfliegen, aber wir machten das Beste draus und so wurde dieses Lager zu einem unvergesslichen Erlebnis. Auch die Volunteers legten sich noch mal mächtig ins Zeug und so hat uns der Volunteer der Region Krasnodar nachts einmal ganz spontan ins Auto verfrachtet und uns über kurvige Wege in die kleine Touristenstadt Gelendschik gefahren, um uns dort den feinen Sandstrand in einer kleinen Bucht und die Uferpromenade zu zeigen.

Doch zurück zu meinen Erlebnissen aus den vergangenen Monaten.

Da sich mein Russisch von Tag zu Tag verbesserte, wurde es immer leichter mit anderen Leuten zu reden. Das war auch gut so, denn die Russen lieben es sich zu unterhalten und vor allem über alle möglichen Dinge zu diskutieren. So wird z.B. in der Marschrutka (russischer Kleinbus) darüber laut diskutiert, wo man am besten auszusteigen hat, um am schnellsten zu seinem Ziel zu kommen. Auf dem Markt wird dann diskutiert, an welchem Stand man die besten und preiswertesten Äpfel, Birnen etc. kaufen kann. Dass es dabei oft sehr laut und emotional zugehen kann, war für mich am Anfang sehr befremdend, da man sich in Deutschland darüber eigentlich gar nicht mit Fremden und wenn doch dann nur auf einer sachlichen Basis unterhält. Aber mit der Zeit gewöhnte ich mich dran und irgendwie machte es auch Spaß über sinnige und unsinnige Dinge mit unbekannten Leuten zu diskutieren und dabei auch noch emotional werden zu können.

anke-russland6Ein interessanter Tag für mich war in vieler Hinsicht der Internationale Frauentag am 8. März. Zum einen hatte ich diesen Tag zuvor noch nie gefeiert und war somit auch sehr überrascht, als ich von allen möglichen Menschen Geschenke bekam. Zum anderen habe ich an diesem Tag zum ersten Mal die komplette Familie von meiner Gastmutter getroffen. Der ganze Tag fing damit an, dass ich morgens aufstand und mich meine Gasteltern schon mit einem liebevollen Geschenk erwarteten. Danach machten wir uns zu der Wohnung meiner Gastoma auf, bei der schon die ganze Verwandtschaft wartete. Dort wurden noch einmal alle Frauen reich beschenkt mit Blumen und Schokolade, bevor das Ganze zu einem 5-Gänge-Mittagsessen überging. Dabei wurde ich dann ausgiebig befragt, wie mir es denn in Russland gefalle und wie mein Leben in Deutschland so sei. Die Leute waren sehr interessiert an mir und es war spannend, ihre Einstellung zu ihrem Land und vor allem zu Deutschland zu sehen.

Dass es nicht nur bei mir in der Russischen Sprache zu Missverständnissen kam, sondern auch bei den Russen mit meiner Sprache, hat mir eine meiner Mitschülerinnen gezeigt, als ich einen kleinen Vortrag über deutsches Essen hielt. Dabei erwähnte ich, dass eine typisch deutsche Speise „Sauerkraut mit Kartoffelbrei und Bratwürstchen“ sei. Als sich dann eines der Mädchen meldete und entsetzt fragte, ob wir denn in Deutschland wirklich Besen essen würden, war ich im ersten Augenblick total verdutzt, wie man denn auf eine solche Idee kommen kann. Erst als mir die Lehrerin erzählte, dass sie mit der Klasse den Film „Bibi Blocksberg“ angeschaut hatte, wurde klar, dass sie das Wort Kartoffelbrei nur als den Namen von Bibis Besen kannte und nicht die wahre Bedeutung. Auf jeden Fall mussten wir alle lachen und seit dem denke ich immer, wenn ich mit Missverständnissen zu kämpfen habe, dass es nicht nur mir so geht.

Der wichtigste kirchliche Feiertag in Russland ist Ostern. Zu diesem Tag werden überall im Land Ostereier gefärbt oder bemalt und der traditionelle Osterkuchen gegessen. In der Nacht zu Ostersonntag gehen viele der Gläubigen in die Kirche zu der Osternachtsmesse. Das ist auch eine der wenigen Nächte, in denen die öffentlichen Verkehrsmittel die ganze Nacht durchfahren. Nach dieser Messe wünscht man sich nicht etwa wie in Deutschland „Frohe Ostern“, sondern man sagt sich „Христос воскрес“, was so viel bedeutet wie “Christus ist auferstanden“.

anke-russland7Ein echtes Highlight war der 9. Mai, der Tag des Sieges. Zuerst schauten wir uns die Moskauer Militärparade im Fernsehen an, bevor wir dann zur Parade in Wolgograd aufbrachen. Es war echt interessant, die ganzen Soldaten und Kriegsfahrzeuge zu sehen, wie sie so durch die Stadt zogen, begleitet von etlichen Kriegsveteranen. Anschließend waren meine Gastschwester und ich dann auch noch auf dem Mamajev Hügel bei der Mutter Heimat, um Blumen zum Gedenken an die gefallenen Soldaten abzulegen.

Die letzte Woche vor den großen Sommerferien ist die sogenannte Putzwoche. In dieser Zeit müssen die Schüler die Tische, Fenster, Regale, Tafeln, etc. in den Klassenräumen reinigen und sich um die Pflanzen im und außerhalb des Schulgebäudes kümmern, je nachdem wie es von den betreffenden Lehrern eingeteilt wird. Ich muss zugeben, dass ich schon ein wenig erstaunt war, als ich morgens in die Schule kam und dabei war, wie der Lehrer den Schülern sagte, dass sie am Nachmittag zum Putzen kommen sollen, da dies in meiner deutschen Schule die Arbeit der Reinigungskräfte ist und nicht etwa die der Schüler. Worüber ich aber noch mehr gestaunt habe, war, dass keiner der Schüler sich beschwert hatte, wahrscheinlich weil in Russland generell die Lehrer das Sagen haben und sich weder Eltern noch Schüler über schlechte Noten oder ähnliches beklagen.

Der Putznachmittag stellte sich dann aber auch als eine sehr lustige Aktion heraus und das nicht nur wegen der nebenbei entstandenen Wasserschlacht.

Am 25. Mai 2011 folgte der letzte Schultag, auch последний звонок (letzter Schulgong) genannt. An diesem Feiertag kommen alle Schüler schwarz weiß gekleidet zur Schule, um an dem traditionellen Feiertag mit Preisverleihung und Entlassung der 11. Klasse teilzunehmen. Auch ich wurde an diesem Tag verabschiedet und als ich realisierte, dass ich dieses Gebäude zum letzten Mal betreten habe, war in mir schon etwas Wehmut zu spüren.

Die traurigsten Tage während meines Auslandjahres waren sicherlich die Tage vor meinem Abschied, als ich zum letzten Mal mit meinen Freunden spazieren war, meinen letzten Abend in meiner Gastfamilie verbracht habe und schließlich zum letzten Mal an den Bahnhof fuhr und mich dort von meiner lieben Familie, die mir in diesem Jahr so ans Herz gewachsen war, verabschieden musste.

anke-russland8Richtig schwer fiel mir auch der Abschied von den ganzen anderen Austauschschülern aus aller Welt. Sie sind mir in dieser Zeit immer zur Seite gestanden und wir waren eine so tolle Gruppe, die, egal was auch immer war, zusammen gehalten hat.

Ich könnte noch so viel erzählen, denn es gab immer wieder nette Begebenheiten in der Familie, in der Schule, als ich z.B. Jurymitglied bei einem Gedichtwettbewerb war und sich die kleinen Grundschulkinder sich sehr bemühten, ihr deutsches Gedicht ausdrucksstark mit viel Mimik und Gestik vorzutragen. Der Bericht würde aber dann nie fertig werden.

Als Fazit kann ich nach diesem Jahr in Russland sagen, dass ich, von wenigen Einschränkungen abgesehen, nur positive Erfahrungen mit den Leuten, die ich getroffen habe, und AFS, gemacht und es tatsächlich keinen Tag bereut habe, diesen Schritt zum Auslandsjahr gewagt zu haben. Ich bin in diesem Jahr offener, selbstbewusster, aber auch sensibler für die Empfindungen anderer geworden.

Heute kann ich sagen:

„Für mich sind AFS nicht einfach nur 3 Buchstaben oder eine Austauschorganisation, für mich bedeutet AFS Leben.“

Anke Nies

 

Erster Teil des Berichts